Prof. Dr. Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora Weimar
Der Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora Jens-Christian Wagner am 11. April 2021. Bildrechte: imago images/ari

Interview mit Historiker Prof. Jens-Christian Wagner KZ Nohra 1933 - das erste KZ im Thüringer "Mustergau" und im Deutschen Reich

03. März 2023, 05:00 Uhr

Nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 kommt es im Deutschen Reich zu Verhaftungswellen. Dabei werden tausende Kommunisten und Sozialdemokraten verhaftet. In Nohra in der Nähe von Weimar richten die Nationalsozialisten am 3. März 1933 ein Konzentrationslager (KZ) ein. MDR Geschichte sprach mit dem Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Prof. Jens-Christian Wagner, über die Geschichte des ersten KZ in Thüringen und im Deutschen Reich.

Handelt es sich beim KZ Nohra um das erste deutsche oder das erste thüringische Konzentrationslager ?

Prof. Jens-Christian Wagner: Das erste Thüringer Konzentrationslager war es auf jeden Fall. Ob es das erste im Deutschen Reich war, ist tatsächlich nicht ganz klar. Anfang März 1933 wurden überall im Deutschen Reich sogenannte "wilde" Konzentrationslager eingerichtet. Insofern kann es rein theoretisch sein, dass am gleichen Tag oder vielleicht sogar vorher es auch an anderen Orten zu KZ-Gründungen kam. Aber es ist aktuell das erste aktenkundige KZ.

Wie kam es zur Entstehung des ersten Konzentrationslagers in Thüringen?

Am 28. Februar 1933 wurde nach dem Reichstagsbrand die sogenannte Reichstagsbrandverordnung erlassen, "zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte", hieß es darin. Diese Reichstagsbrandverordnung setzte sämtliche demokratischen Freiheitsrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft. Auf der Grundlage dieser Verordnung wurde die sogenannte Schutzhaft eingeführt, die dann vor allem gegenüber kommunistischen Funktionären im Deutschen Reich und auch in Thüringen angewendet wurde. Schon am 28. Februar erfolgten die ersten Verhaftungen und bald waren die Polizeigefängnisse dermaßen überfüllt, dass man erweiterte Haftstätten brauchte. In den Wochen nach dem 28. Februar 1933 sind in Thüringen etwa 1.000 Kommunisten verhaftet worden. Dann suchte das Innenministerium in Thüringen nach geeigneten Orten und die Wahl fiel auf den ehemaligen Flugplatz Nohra, auf dem sich die sogenannte Heimatschule Mitteldeutschland e.V. befand.

Die "Heimatschule" war zur ideologischen und sportlichen Ertüchtigung von Jugendlichen gegründet worden. Leiter der Schule war ein NSDAP-Mitglied seit 1931. Auch gab es auf dem ehemaligen Flugplatz geeignete Gebäude, die man als Konzentrationslager nutzen konnte. Der letzte Grund, warum die Wahl auf Nohra fiel, war die Nähe der Landeshauptstadt Weimar, wo sich eine Schutzpolizei-Einheit befand, der das KZ unterstand. Man hatte Polizei vor Ort und geeignete Gebäude und das in einem ideologisch gefestigten Umfeld. Deshalb wurde an diesem Ort das KZ Nohra am 3. März 1933 eingerichtet.

Die "Heimatschule" ca. 1932, hier war das erste KZ Thüringens untergebracht
Die "Heimatschule" ca. 1932 auf dem Gelände des Fliegerhorsts Weimar-Nohra. Hier wurde das erste KZ Thüringens am 3. März 1933 eingerichtet. Bildrechte: Archiv Flugplatz Nohra e.V.

Wer wurde inhaftiert?

Ausschließlich Kommunisten. Es ist bislang jedenfalls kein Sozialdemokrat oder anderes Parteimitglied nachweisbar. Die Höchstbelegung waren etwa 220 Personen. Und dann wurden aber schon im April 1933 die ersten Insassen wieder entlassen. Andere wurden in Strafanstalten oder auch in Polizeigefängnisse überstellt, sodass das Lager dann am 10. Mai 1933 schon wieder aufgelöst wurde. Die Insassen waren, wie gesagt, KPD-Angehörige und zwar vorwiegend leitende KPD-Angehörige. Die Hälfte der KPD-Landtagsfraktion war in Nohra inhaftiert und ansonsten viele Stadtrats-Mitglieder aus den verschiedenen Städten im damaligen Staat Thüringen.

Standort der ehemaligen Heimatschule und des KZ Nohra
Standort der ehemaligen Heimatschule und des KZ Nohra im Februar 2023. Das Gebäude wurde 1951 abgerissen und durch einen Treibstoffbunker ersetzt, der in den frühen 2000er-Jahren abgetragen wurde. Im Hintergrund ist der Glockenturm der KZ-Gedenkstätte Buchenwald zu sehen. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Was ist der Unterschied von Nohra zu "normalen" Gefängnissen und auch zu späteren Konzentrationslagern? Unter welchen Bedingungen lebten die Häftlinge?

In ein "normales" Gefängnis kam man auch in der Zeit des Nationalsozialismus nur, wenn man vor ein Gericht gestellt und verurteilt worden war. Und die "Schutzhaft", auf deren Grundlage Häftlinge in die KZs eingewiesen wurden, war eine Art Präventivhaft, die nicht auf einem konkreten Handeln beruhte. Die sogenannte Schutzhaft war zeitlich unbefristet, also eine reine Willkürstrafe, die von der Polizei ohne richterliches Urteil angeordnet wurde. Das ist der formale Unterschied und dann gibt es noch den Unterschied in der Haftpraxis. In Nohra und noch schlimmer in späteren Konzentrationslagern waren die Lebensbedingen deutlich schlechter als in sogenannten "normalen" Gefängnissen, Zuchthäusern und Strafanstalten - wenngleich natürlich auch in den NS-Gefängnissen bei weitem nicht solche rechtsstaatlichen Verhältnisse herrschen, wie wir sie heute kennen. Aber tatsächlich waren die Verhältnisse besser als in den Konzentrationslagern, in denen reine Willkür herrschte, Häftlinge misshandelt wurden, in denen gefoltert und gemordet wurde.

Was geschah nach der Schließung des Lagers am 10. Mai 1933 mit den Häftlingen?

Die Häftlinge, die nicht entlassen wurden, überstellte man in die sogenannte Schutzhaftabteilung des Polizeigefängnisses Ichtershausen. Ichtershausen war eine reguläre Strafanstalt, aber dort gab es eine eigene Abteilung "Schutzhaft", in der Häftlinge ohne richterliches Urteil ("Schutzhäftlinge") saßen. Zu diesem Zeitpunkt im Frühling 1933 war potenzieller Widerstand in Thüringen bereits niedergeschlagen worden und die Nazis saßen mehr oder weniger fest im Sattel. Deshalb entließen sie auch eine ganze Reihe von Kommunisten aus dem KZ Nohra und Ichtershausen. Nur diejenigen, die sie als schwerwiegende Gefahr für ihre Herrschaft ansahen, blieben in Haft und die kamen dann im Oktober 1933 in das neu errichtete KZ Bad Sulza, welches bis 1937 das zentrale Konzentrationslager für Thüringen war und dann durch Buchenwald abgelöst wurde.

Was für eine Bedeutung haben "kleinere" Lager wie Nohra heute für unsere Erinnerungskultur?

Luftaufnahme des Geländes "Fliegerhorst Weimar-Nohra", ca. 1944
Luftaufnahme des Geländes "Fliegerhorst Weimar-Nohra", ca. 1944 Bildrechte: (c) GDI-Th/Archiv Flugplatz Nohra e.V.

Wir machen, glaube ich, den Fehler, dass wir die NS-Herrschaft immer von ihrem Ende her denken, also von den Leichenbergen aus befreiten Konzentrationslagern wie Auschwitz, Buchenwald oder Bergen-Belsen und so weiter. Dabei wird übersehen, dass der Beginn des Terrors anders aussah - in Nohra gab es keine Leichenberge. Der Beginn des Terrors zeichnet sich durch eine sukzessive Verschärfung der Verfolgung aus, durch sukzessive Ausgrenzung von all denen, die nicht in die propagierte sogenannte "Volksgemeinschaft" passten. Und darauf müssen wir meines Erachtens den Blick sehr viel stärker lenken, weil wir da tatsächlich auch jenseits falscher Analogiebildungen aus der Geschichte sauber herausarbeiten können, wie eine Diktatur etabliert werden kann und wie eine radikal rassistische Gesellschaft formiert wird.

Und das können wir nicht anhand des Endes der Konzentrationslager zeigen, sondern dann müssen wir auf die Anfangsjahre des Nationalsozialismus blicken. Und dafür ist Nohra natürlich wichtig, wie die anderen früheren Konzentrationslager auch. Es gab Dutzende solcher frühen Lager, die im öffentlichen Bewusstsein weitgehend verschwunden sind. In Thüringen ist es neben Nohra zum Beispiel noch Bad Sulza, die direkte Vorgänger von Buchenwald waren.

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Was ist auf dem ehemaligen KZ Gelände Nohra geplant?

Der Verein Flugplatz Nohra e.V. beschäftigt sich mit der Geschichte des Flugplatzes Nohra und hat sich zum Ziel gesetzt, Informationstafeln aufzustellen, die an verschiedene historische Begebenheiten auf diesem Gelände erinnern. Eine Tafel ist am Standort des ehemaligen Konzentrationslagers geplant - da ist jetzt nur eine Wiese. Umso wichtiger ist es, dass am historischen Ort an dieses Lager erinnert wird. Und umso geschichtsvergessener ist es, dass der Gemeinderat in Nohra 1990 entschieden hat, die gerade zwei Jahre vorher erst angehängte Gedenktafel wieder zu entfernen, die natürlich vom Duktus her ganz SED-Geschichtspolitik ist. Das ist schon klar, aber die Tafel einfach ersatzlos abzuhängen - das geht natürlich eigentlich nicht.

Gedenktafel KZ Nohra
Die DDR-Gedenktafel aus Nohra wurde 1990 abgehängt und ist nun im kleinen Museum des Flugplatzvereins Nohra in Ulla verwahrt. Bildrechte: Jens-Christian Wagner

Gesprächspartner

Professor Jens-Christian Wagner (* 1966 in Göttingen) leitet seit 2020 die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise | 29. Januar 2023 | 22:10 Uhr

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