Leben an der DDR-Sperrzone

500 Thüringer und 5000 Sowjetsoldaten in Nohra

10:59 Minuten
Denkmal von Wladimir Iljitsch Uljanow Lenin am 19.12.2007 auf dem Gelände der ehemaligen sowjetischen Kaserne in Nohra bei Weimar. Auf den Körper und das Gesicht wurde mit roter Farbe gemalt. Zu erkennen sind die Buchstaben C, W und R.
Das Denkmal von Wladimir Iljitsch Uljanow Lenin auf dem Gelände der ehemaligen sowjetische Kaserne Nohra im Jahr 2007. Die Erinnerung an das Leben mit den Sowjetsoldaten ist in dem thüringischen Dort noch wach. © imago / photo2000
Von Henry Bernhard · 27.09.2022
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Das thüringische Nohra war zu DDR-Zeiten sowjetisches Militärgebiet. Bis zu 5000 Sowjetsoldaten lebten hier und rund 500 Thüringer wohnten dicht bei der Kaserne als Nachbarn. Für die meisten war es eher ein Nebeneinander als ein Miteinander.
"Das ist quasi meine zweite Wohnung!“, sagt Sieglinde Römhild. Die Ortschronistin von Nohra öffnet die Tür zu einem alten zweistöckigen Haus. „Sonst gehe ich immer früh und mache das Fenster auf. Das hier war die alte Schule bis 1899.“
Vor sechs Jahren hätten sie die Heimatstube errichtet, erzählt Römhild: "Das ist quasi ja wie früher so. Wenn die Leute reinkommen: 'Ach, das ist wie bei meiner Oma!' Kommen Sie, das werden Sie dann auch gleich sagen.“
Der Geruch jedenfalls ist genau so. „Die gute Stube“ ist ein niedriger Raum mit einem kleinen Fenster: Sofa, Esstisch mit bestickter Tischdecke, Pendeluhr, geblümtes Geschirr, geblümte Tapete, ein Porzellanhund. Die Einrichtung atmet den verstaubten Geruch der Vergangenheit. „Die Dinge, die wir hier haben, sind von Einwohnern aus dem Ort von Freunden, von Bekannten.“

Kleine russische Ecke in der Heimatstube

Römhild ist 1951 in Nohra geboren. Der Ort liegt westlich von Weimar, zwischen dem Ettersberg und der Autobahn A4. Knapp 400 Einwohner leben hier. „Oben haben wir Schlafzimmer und Kinderzimmer. Das werden sie ja dann sehen.“ Oben gibt es zudem noch eine kleine russische Ecke, ein Regal.
„Ja, ich habe nicht sehr viel. Nur hier die Matrjoschkas, die Bücher von der Frau Satjukow, 'Sie gingen als Freunde', 'Die Russen in Deutschland', ich habe auch noch mehr“, sagt Römhild. Ja, und Lenin habe sie auch, bestätigt sie. Eine kleine Lenin-Büste mit rotem Pionierhalstuch steht neben Puppen mit Folklore-Tracht und russischem Nippes aus bemaltem Holz.
Rund 2500 Quadratkilometer der DDR waren als "sowjetisches Militärgebiet" ausgewiesen, auch Nohra war für DDR-Bürger Sperrzone. Nur wenige Flugminuten von der Grenze zur Bundesrepublik entfernt gelegen, war dort die größte sowjetische Hubschrauberstaffel der DDR stationiert.
„Lenin steht ja auch als einziges noch hinten im Gelände, dort, wo der Stab war“, sagt Römhild. Da mischt sich Burkhard Künoldein. Er ist ein Nachbar. Zwei Denkmäler gebe es auch noch, dort, wo die Soldaten immer vereidigt worden seien. Er meint einen Ort auf dem früheren Kasernengelände der Sowjetarmee in Nohra.
„Ja, das sind eben Dinge, die wir aus Moskau – ich war in Moskau und in Sankt Petersburg – mitgebracht haben. Das sind nur so ein paar Souvenirs, die ich hier habe.“

Speerspitze der Roten Armee

Das Russische ist ihnen wichtig hier. Schließlich kamen während der DDR-Zeit in Nohra auf einen Einwohner etwa zehn sowjetische Soldaten. Ganz genau weiß das hier niemand. Ob es nun 4000 Soldaten waren, 5000 oder gar 7000. Die Speerspitze der Roten Armee, auf Fulda in Hessen ausgerichtet.
Burkhard Künold erinnert sich an den Anblick des Flugplatzes Nohra in den 80er-Jahren. „Das war schon imposant, wenn du hier oben lang gekommen bist: Du hast bis zum Buchenwald dieses Tal gesehen und ein Rotorblatt nach dem anderen! Hier waren irgendetwas um 80 einsatzbreite Kampfhubschrauber, die meisten vom Typ Mi-8, aber auch sehr viele Mi-24. Und wenn du die Feuerkraft mal gesehen hast …“
Er ist ein ehemaliger Offizier der NVA, der Nationalen Volksarmee der DDR, war selbst Fallschirmjäger in einer Spezialeinheit, die er nicht genauer benennen will. Anders als die anderen Dorfbewohner hat er das sowjetische Hubschrauberregiment auch mal bei einem Manöver im Einsatz gesehen. „Ich war mal beim Manöver 'Waffen wirken' in Torgelow, und da ist mit mehreren hundert Fahrzeugen ein Bundeswehr-Panzergrenadierbataillon nachgestellt worden. Also, da kam ein Hubschrauber über die Tannen hoch, dann kamen vier hoch und dann stand der ganze Krempel da unten in Flammen.“

Von Offizieren und einfachen Soldaten

In Nohra wurde nicht geschossen. Von hier aus machten die Hubschrauber nur ihre Rundflüge. Aber auch die waren nicht ohne, erinnert sich Horst Zange. „Für uns natürlich stark belastend war 1979, da haben die diesen Hubschrauber-Flugplatz wesentlich vergrößert." Über 100 Hubschrauber seien es danach gewesen.

Die haben ja Flugbetrieb gemacht, außer sonntags: Samstag immer bis Mittag, manchmal in der Woche bis früh um ein oder zwei Uhr. Das war schon - also von der Lärmbelastung her - ziemlich schlimm.

Horst Zange über den Flugbetrieb der Roten Armee

Römhild verdeutlicht: „Da haben die Gläser im Schränken geklappert oder das Fernsehbild gewackelt.“ Der Hubschrauberlärm war eine ständige akustische wie psychische Belastung, vor allem für die Weimarer.
Die sowjetischen Soldaten blieben über ihre ganze Dienstzeit in der DDR mehr oder weniger in den Kasernen eingesperrt, in Schlafsälen mit jeweils zwanzig bis dreißig schmalen Pritschen – ohne jegliche Privatsphäre; schlecht ernährt und von ihren Vorgesetzten schikaniert, mitunter auch gequält."
Die Offiziere aber durften raus aus den Kasernen, haben oft auch mit ihren Familien außerhalb gelebt, wenn auch meist sehr beengt. „Die sind durchs Dorf, manchmal singend, mit Kind und Kegel, wenn sie dann lustig aus der Gaststätte kamen. Oder heimlich haben sie sich Bier geholt in großen Gurkengläsern. Die Soldaten durften ja nicht raus, die waren wirklich arme Schweine. Wenn man die im Magasin noch gesehen hat, wenn sie mit einer Milch und einen Lolli dastanden, da hat einem schon das Herz geblutet", erinnert sich Römhild.
„Magasin" ist die russische Bezeichnung für Geschäft oder Laden und so wurden auch die Läden der Sowjets genannt, in die manchmal auch DDR-Bürger durften und in denen es manchmal Dinge gab, die anderswo schlecht zu kriegen waren: russische Fischkonserven etwa, Bananen oder Kaviar - dem einen gelang das durch Beziehungen, dem anderen durch Tricks. „Sie hatten ja einen Zaun rundherum. Aber dann war hier, wo die Hubschrauber waren, immer ein Loch irgendwo im Zaun. Die Frauen sind ja auch raus. Und ja, da sind wir einkaufen gegangen", erklärt Römhild.

Deutsch-sowjetische Freundschaft in der Realität

Für DDR-Bürger, die angepasst leben oder auch nur keinen Ärger haben wollten, war die Mitgliedschaft in der „Deutsch-sowjetischen Freundschaft“, kurz DSF, fast obligatorisch. Für die allermeisten bestand die einzige damit verbundene Aufgabe jedoch darin, den monatlichen Beitrag zu bezahlen und entsprechenden Marken ins Mitgliedsbuch zu kleben.
Keinesfalls gemeint war mit „Freundschaft“ wirklicher Kontakt. „Es war ein Nebeneinander. Es war nicht gewollt. Von unserer Seite, ja", sagt Kindergärtnerin Römhild. Sie sei Vorsitzende der Deutsch-sowjetischen Freundschaft in den Kindergärten im Weimar Land gewesen. "Wir haben ja viel gemacht mit den Kindern, seien es Matrjoschka-Feste oder Lieder zu lernen. Aber es war eben einseitig. Wir hatten keine Möglichkeit, irgendwie mit Schule oder mit irgendjemand da in Kontakt zu kommen. Das ging nicht, das war nicht gewollt.“
Man habe deutsch-sowjetische Freundschaft-Feste ohne Sowjets gemacht, sagt Römhild weiter und erzählt dann einen Witz.
"Da kommt einer zum Ordnungsamt nach Isseroda:
- 'Ich will einen Hund anmelden!'
- 'Was hast du denn für einen Hund?'
- 'Ich habe keinen'
- 'Und wieso willst du dann einen Hund anmelden?'
- 'Na ja: Wir mussten ja auch deutsch-sowjetische Freundschaft bezahlen und hatten keine'.“

Geduldete Kontakte

Horst Zange schaltet sich ein: "Aber so im täglichen Leben gab es auch nicht immer so ein freundliches Miteinander. Es war eine gegenseitige Akzeptanz. Es war nicht so planbar. Es wurde ertragen von der Bevölkerung. Eher so private Beziehungen, aber nicht so Deutsch-sowjetische Freundschaft.“
Und doch gab es Kontakte zwischen den Deutschen und den Besatzern - nicht erlaubt, aber doch meist geduldet. Horst Zange erzählt vom gemeinsamen Fußballspielen, schon als Kind; vom Fallschirmspringen aus dem Hubschrauber später, von Geschäften und Freundschaftsdiensten.
Auch an weinende und sturzbetrunkene Hubschrauberpiloten, die gerade vom Einsatz in Afghanistan zurückkamen, erinnert er sich. „Die haben sich hier erstmal die Kante gegeben. Die haben sich wirklich hier gefreut, dass sie in sicherem Gebiet waren, dass sie im Frieden waren. Die haben gesagt: sinnloser Krieg, alles sinnlos. Und das hat sich ja dann alles bewahrheitet.“
Auch Eckhart Lindner erzählt von heimlichen Kontakten. „Es war nicht erlaubt, aber es wurde geduldet. Die haben uns dann durch die Wachen geschmuggelt und haben uns dann in ihre Wohnung mitgenommen. Die Neubauwohnungen, in der Mitte geteilt, da waren zwei Familien drin. Das war schon unvorstellbar für uns. Die kamen auch zu uns nach Hause, und wir haben zusammen gefeiert. Die waren natürlich total überrascht, dass wir solche großen Häuser bewohnten. Die eine Frau sagte 'In so einem Haus wohnen in Russland zehn Familien.' Und das war auch der Grund, warum das nicht erlaubt war, dass die Deutschen mit den freundschaftlichen Beziehungen gepflegt haben, weil es schwer war, der Siegermacht zu erklären, dass es uns besser geht als ihnen; das war schwierig.“

Informeller Arbeitsmarkt

Viele der sowjetischen Offiziersfrauen arbeiteten mehr oder weniger heimlich außerhalb der Kasernen. Harry Sochor erzählt, wie die Frauen morgens in den Stall kamen zum Melken. „Die sind in Zivil, bei Nacht und Nebel, aus der Kaserne früh um halb vier raus, um vier Uhr fängt die Arbeitszeit im Kuhstall an. Und die Arbeitszeit ging meistens so bis um neun, halb zehn. Sie haben sich wieder umgezogen und sind dann wieder in der Kaserne. Und dann mittags wieder, um eins bis abends um fünf, halb sechs. Und dann sind sie wieder rein in die Kaserne, meistens hintenrum, so ein bisschen illegal. Aber irgendwie ging es irgendwie.“
„Der Linienbus von Erfurt nach Weimar, der war immer voll mit russischen Frauen, immer“, berichtet Eckhart Lindner.
„Und manchmal ist es uns schlecht geworden, alldieweil das Parfüm und der Knoblauch", berichtet Römhild lachend. "In Weimar musstest du erst mal durchatmen.“
„Viele, weiß ich, haben in der ehemaligen Molkerei gearbeitet", erzählt Lindner. "Ich kenne aber auch wenige, die hatten sogar im Uhrenwerk gearbeitet, Fließbandarbeiten. Und viele im Geflügelschlachthof, da waren ganz viele sowjetische Frauen.“

Abzug aus Deutschland

Besonders groß war das Interesse an einer Arbeit, als es ab 1990 D-Mark zu verdienen gab. Das war die Zeit, als auch mit vielem gehandelt wurde vor und hinter dem Kasernenzaun. Mit Autos, Alkohol, Zigaretten, Diesel, Hubschrauberrundflügen – zum beiderseitigen Vorteil.
Im August 1992 zogen die Sowjets ab aus Nohra. Die meisten mit der Bahn, ein paar mit hier gekauften Autos, die Piloten mit ihren Hubschraubern. Alle in eine ungewisse Zukunft. „Es war ein Sommertag. Ich kann mich noch gut erinnern. Und die Hubschrauber, die flogen ganz dicht über Nohra. Die Türen waren offen, die Leute saßen drin, haben gewunken. Und der Hubschrauber so geschwenkt, die sind zweimal übers Dorf", schildert Lindner. "Die Leute haben geheult. Und es war auch ein komisches Gefühl, denn es war ja immer Licht dort unten. Das war ja wie eine Stadt für sich. Das war ja dann alles dunkel. Das war irgendwie gruselig, war fremd.“

„Für uns war es wirklich eine Erleichterung", sagt Zange. "Wir wollten dann auch keinen Flugplatz, also diesen Lärm, nicht mehr haben. Man war dann froh, dass man so eine richtige Seelenruhe hatte dann. Das war schon besser!“
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